„Und wenn ich jetzt einfach verschwinden würde … „, stoppelte er sich einen vage empfundenen Gedanken vor die Füße, als überlege er sich, was er heute zu Abend essen sollte. Der Tag war gut zu ihm gewesen, er hatte lange aufgeschobene Dinge erledigt, sich mit dem bequemen Online-Kauf einer limitierten Vinyl-Ausgabe seines zweitliebsten Albums überhaupt einen Herzenswunsch erfüllt und auch ansonsten während des gesamten Arbeitstages nur wenig wirklich nervige Mails bekommen. Jetzt ging er, wie jeden Tag, seine Abendrunde mit dem Hund und genoss die frühsommerliche Wärme im satten Grün des Waldes und vor allem die bis spät abends andauernde Helligkeit.
Dieser eine Gedanke waberte nur kurz auf, zwischen dem was man halt so denkt, wenn man sich treiben lässt. Und er hätte ihm auch keinerlei Bedeutung beigemessen, vielleicht nicht einmal zwischen all den anderen Gedanken bemerkt, wäre da nicht die eine Schnecke auf dem kleinen Pfad gewesen, gerade als es den Hügel hinunter ging, der im Winter ohne Gummistiefel unbegehbar war. Er konnte seinen Tritt gerade noch so zur Seite lenken, um sie nicht unter seinen Schuhen zu zermalmen. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt er in seiner Bewegung inne und zwang seine Motorik zu einem ungelenk bis desolat anzuschauenden, aber Leben rettenden Move, wie der handelsübliche YouTuber sagen würde, und setzte seinen Weg fort, einzig einmal blitzschnell über die Schulter schauend, ob die Schnecke es ihm mit ihrem gleichtat. Sie tat es. Und er folgte seiner Hündin tiefer in den Wald.
Erst als er zufällig, einer quer über den steilen Weg gewachsenen Wurzel ausweichend, nach unten auf seine Schuhe sah, dachte er wieder bewusst an die Schnecke und die sie wohl ständig begleitende Gefahr, von einem Stiefel zertreten, einem Rad überfahren, einem Vogel gefressen zu werden und verlangsamte seinen Schritt ohne es zu bemerken. Assoziationsketten verfingen sich in seinem Denken und fochten einen wirren Kampf aus kaum zu bestimmenden Gedanken und ziemlich klaren Vorstellungen vom auf der Stelle eintretenden Tod. Das alles dauerte kaum länger als die Schnecke wohl gebraucht hatte, um angesichts der Gefahr, instinktiv ihre Fühler einzuziehen. Doch am Ende – sein Gang war inzwischen in Gänze zum Erliegen gekommen und hätte er sich gesehen, hätte er einen müde dreinblickenden Mann in seinen Vierzigern gesehen, dessen Blick sinnfrei ins Blätter umrankte Nichts fokussierte – blieb von allen Gedanken dieser eine übrig. „Und wenn ich jetzt einfach verschwinden würde …“.
Vielleicht klopfte ein Specht, vielleicht sang eine Amsel ihr Abendlied. Es dauerte jedoch nur unwesentlich länger, als die Schneckenfühler in ihrem Automatismus auf die Gefahr reagierten. Sein Gesicht entspannte sich zusehends und seine Mundwinkel hoben sich Millimeter für Millimeter. Das Ganze verlief wie eine bizarre, mimische Metamorphose von totaler Leere, dümmlich anzusehen, bis hin zu völliger Beseeltheit, ebenfalls dümmlich anzusehen. Aber wen interessiert das. Es sah ihn ja niemand. Und die blasse Erinnerung an juvenile, von Dramatik und Romantik gedüngte Todessehnsucht, unbegründet wie gleichermaßen normal, ließ ihn in einträchtiger Symbiose mit diesem hypothetischen Gedanken an das eigene, endgültige Verschwinden wahrhaft glücklich sein.
Hätte er sich nur an den genauen Ort erinnern können, an dem ihm die kleine Schnecke dieses Gefühl im Nachhinein beschert hat, er wäre zurück gelaufen und hätte sich bei ihr bedankt. Das war im Übrigen gar kein so ungewöhnliches Verhalten, wie es jetzt vielleicht erscheinen mag. Dankbarkeit ist eines der wahrhaft großen Gefühle, die einem das Älterwerden schenkt. Es gibt reichlich Gründe, einfach verschwinden zu wollen, gerade wenn man viel nachdenkt, dessen bin ich mir bewusst. Und der dümmlich grinsende Mann dort im Wald auch. War er schon immer. Und so sehr er auch so viele Menschen verstehen kann, die genau das erwägen, hat er für sich doch in seinem wirklich dümmlichen Grinsen den Beweis gefunden, dass er – so wie er hier steht, inmitten des Waldes, inmitten seines Lebens – keinerlei Grund hat, so überhaupt gar keine Lust, verschwinden zu wollen.
Und vielleicht achtet er fortan noch ein wenig mehr darauf, wo er hin tritt.
Neueste Kommentare