Ihr sitzt in der U-Bahn, durch die auf maximalsten Anschlag – also 11 – laufenden Kopfhörer dringt Eure Lieblingsmusik an Euer Hirn, Euer Herz und einfach überall hin. Ihr seid glücklich durchdrungen und Euer debiles Grinsen wird körperlich begleitet von steil aufgestellten Härchen am Unterarm.
Nichts könnte gerade schöner sein und Ihr genießt jede Zeile klassenkämpferischer Lyrik (gut, vielleicht kennt Ihr das jetzt auch mit Texten a la David Guetta … wenn der denn Texte hat, die diese Bezeichnung verdienen, aber ich schweife ab), Euer Fuß wippt unkontrolliert im Takt und plötzlich schaut Ihr aus einem unbemerkten Impuls heraus auf. Ihr schaut in das Gesicht der Euch gegenübersitzenden Frau, Mitte 50, vielleicht etwas älter. Natürlich schaut Ihr sofort wieder woanders hin, aber irgendetwas in ihrem Blick hat Euch irgendetwas in die Retina geschossen, was Euch nicht loslässt.
Von jetzt auf gleich sind Eure Mundwinkel nicht mehr die eines Schalks an Vatertag, sondern ziehen sich betroffen in sich selbst zurück. Ihr wisst nicht was es war, Ihr wisst nicht genau warum, aber jenseits allen Denkens wagt Ihr einen zweiten Blick. Ihr versucht die Augen unauffällig durch den Wagon schweifen zu lassen, nur um dann wie beiläufig über ihr Gesicht zu huschen. Doch aus dem Huschen wird nichts. Dein Blick verharrt auf ihrem Gesicht. Sie schaut nicht zurück. Sie sieht irgendetwas in der Ferne, dass hier ansonsten niemand zu sehen in der Lage ist. Und jetzt entdeckst Du auch, was Dich so irritiert, so gefesselt, Dich gezwungen hat, noch einmal hinzusehen. Ihr Blick offenbart eine unglaubliche Traurigkeit.
Eine Traurigkeit, die Dich durchdringt. Dich urplötzlich einfängt. Du hast keinerlei Ahnung, was diese Frau gerade durchmacht. Oder durchgemacht hat. Du kennst weder Ihr Schicksal noch sonst irgendetwas, nicht ein Detail aus ihrem Leben. Doch Du bist sofort gefangen in einer Art Anteilnahme, Du empfindest … ja, Du empfindest vielleicht kein Mitleid, wie auch, ohne jegliches Wissen, aber Du bist durchdrungen von einer Dich überrollenen Woge an Mitgefühl.
Und Du hast jegliche Scheu verloren, sie anzusehen, wenn auch auf weniger voyeuristische als vielmehr hypnotisierte Weise, und Du spürst, Du fühlst Ihr Leid, Du … leidest selber. Urplötzlich ist Dein Hochgefühl verschwunden, alle Gedanken, die Dich zuvor bestimmten sind hinfort gespült. Aber Du fühlst Dich nicht betrogen um dieses Gefühl, Du möchtest helfen. Und weil Du nicht helfen kannst, nimmst Du die Kopfhörer aus den Ohren und schaltest die Musik aus, die Dich bislang so beschwingt gegen die restliche, ach so böse Welt in Stellung gebracht hat. Deine Gedanken kreisen und konstruieren alle möglichen Szenarien, was Ihr passiert sein könnte. Ganze Leben schießen an Deinem inneren Auge vorbei.
Du nimmst gerade noch wahr, dass Deine Station gekommen ist und Du aussteigen musst. Und Du steigst aus. Irritiert und gedankenschwer.
Du schüttelst wie im Comic den Kopf, wie um die Gedanken abzuschütteln, aber es funktioniert nicht.
Nach ein paar Schritten greifst Du wie in Trance zu den heimatlos an Dir herunter baumelnden Kopfhörern und steckst sie Dir in die Ohren. Du zögerst noch ein paar Sekunden, ein paar Schritte, die Bahn fährt weiter und Du drehst Dich nicht um, aber Du weißt, dass sie weiter leidet.
Du schaltest die Musik wieder ein. Es geht genau an der Stelle weiter, an der Du nur kurz zuvor gestoppt hast. Deine Lieblingsmusik erfüllt wieder Dein Ohr.
Doch Deine Gedanken sind nicht bei ihr.
Vielleicht kennt Ihr das …
(Gewidmet der Fremden in der U-Bahn mit dem aufrichtigen Wunsch, dass es ihr irgendwann wieder besser gehen möge.)
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