Vermutlich ist er es mal wieder.
Der Zeitgeist. Und er hat sich wieder einmal neu erfunden.
Derzeit plagt er uns alle mit der Tatsache, dass wir – jeder für sich – unzählige Leben parallel führen und der dazu gehörenden Überzeugung, dass man sich und seine Persönlichkeit in jeder einzelnen dieser von uns belebten Mikroversen bitte schön adäquat zu seinem Umfeld zu gestalten hat. Denn schließlich herrscht in jeder Miniwelt auch eine andere Erwartungshaltung dem einzelnen gegenüber vor. Und die muss ja nicht zwangsläufig mit dem übereinstimmen, was wir sind, sein wollen oder auch sein können.
Fakt ist, der moderne Mensch soll irre individuell sein, sich durch Persönlichkeit und Eigenständigkeit glänzend von der Masse abheben. Rebellisch und erfindungsreich. Zugleich soll er aber auch verlässlich und in einer Weise konform sein, dass er sich sozialverträglich in jedes System integrieren lässt. Der kreative Beamte, der anarchische Lemming, ein malender Boxer, der handwerklich begabte Philosoph. Einer, der hilft, wenn es brennt, der aber gleichzeitig den Funken in sich trägt, um den Brand auszulösen. Der Zeitgeist möchte das so.
Da ist der Mann der in seiner Partnerin natürlich die perfekte Hausfrau mit Hang zur romantischen Gemütlichkeit vorfinden möchte, wenn sie dafür nach dem täglichen Besuch im Fitness-Studio im Bett aber auch tabulos abgeht, wie Schmitt`s vervampte Katze und nebenher natürlich im Beruf erfolgreich ist, aber bitte nicht zu selbstbewusst oder gar in einer Führungsposition. Der perfekte Mann hingegen sollte letzteres für die moderne Frau natürlich schon sein und durch seine unersetzliche Arbeit folgerichtig auch ausreichend begütert, ein heißer, männlicher aber einfühlsamer Liebhaber, der jedoch auch – emotional begabt – die Kinder ins Bett bringt, unaufgefordert den Müll rausbringt und selbstverständlich den Garten pflegt, so wie sich selbst. Jeder Chef möchte selbstständig denkende Mitarbeiter mit enormer Sozialkompetenz und Durchsetzungsvermögen, außer wenn es um die eigenen Anweisungen geht, wohingegen der perfekte Chef aus Sicht der Angestellten eigentlich eher unsichtbar gewünscht wird, dazu allerdings natürlich die Begabung einer intelligenten Unternehmensführung mitbringen sollte mit der nötigen Dominanz gegenüber konkurrierenden Firmen.
Das könnte ewig so weitergehen. Es gibt nicht nur viele Parallelgesellschaften – es gibt derer unzählige! Verbinden wir mit diesem Begriff im Normalfall doch eigentlich stets das Thema Migration und den oftmals mangelnden Willen zur Integration, steckt für jeden von uns weitaus mehr dahinter. Leben wir doch tagtäglich, oft sogar gleichzeitig in verschiedenen Gesellschaften. Und das zum einen qua unserer sozialen Position, aber auch selbst gewählt.
Sportverein, Partei, Familie, Freunde, Firma, Clubs, Ehrenamt, Verkehrsteilnehmer, undundund. Diese Liste ist endlos fortzuführen, auch wenn sie von einem zum anderen latent divergiert.
Und jede dieser Welten, die wir uns ausgesucht haben oder die uns ausgesucht hat oder mit der wir schlicht verbunden sind, hat eine ganz bestimmte Erwartungshaltung an uns. Eine Vorstellung, wie wir zu sein und uns zu benehmen haben. Diese Vorstellung ist mitunter durchaus einengend für das eigene Selbstverständnis, wie man denn sein möchte, wie man denn sein muss, um sich wohl zu fühlen in seiner Haut.
Das soll an dieser Stelle überhaupt kein Gejammer über diesen Umstand sein. Ich versuche nur mir selber zu erklären, warum ich gerade in den letzten Jahren immer mehr Menschen kenne, die diese Erwartungshaltungen nicht mehr erfüllen können, obwohl sie wollen. Warum sich die Depressionserkrankungen derart häufen, auch und gerade bei Menschen, die bisher gar nicht unbedingt klassisch depressiv waren.
Egal um welchen Bereich es geht. Der Chef erwartet von einem einzelnen Charakter ein anderes Verhalten, als der Partner, die Kinder, die Eltern, die Freunde, die Kumpels, die Kollegen, die Mannschaftskameraden, die …. aber dazu wird natürlich wie selbstverständlich noch der Anspruch gepackt, dass man sich nicht verbiegen lassen, dass man ganz man selber sein soll.
Klar gibt es diejenigen, die das mühelos schaffen. Die Mr. Cobains „Come as you are“ eingeatmet und dazu noch das Glück haben, auf ein Umfeld zu treffen, das es ähnlich sieht. Ein Umfeld, dass ihn oder sie akzeptiert wie er oder sie wirklich ist. Aber es gibt eben auch jene, die sich so sehr verbiegen, um allem und jeden gerecht werden zu können – sei es aus persönlichen, familiären, psychischen, wirtschaftlichen oder sonst welchen Gründen – dass von ihnen selbst am Ende des Tages nicht mehr sehr viel oder gleich gar nichts mehr übrig ist. Die sich so sehr damit verausgaben, aufzehren, von der einer Rolle in dem einem Mikrokosmos in die nächste Rolle des nächsten Mikrokosmosses zu schlüpfen, dass sie vielleicht sogar vergessen haben, wie sie im Grunde selber sind und wer sie sind. Menschen die sich vergessen haben.
Wenn es soweit gekommen ist, ist es bereits zu spät. Dann hat er wieder gewonnen, der Zeitgeist. Aber ab und an, erkennen wir ihn ja auch rechtzeitig. Und ich meine, es ist dann an der Zeit zu sagen:
Fick Dich Zeitgeist!
Ändern kann das im Grunde eh nur jeder selber, aber vielleicht achten wir einfach mal ein wenig aufeinander und legen nur die Erwartungshaltung an andere Menschen an, die wir selber auch u erfüllen bereit sind. Vielleicht aber auch einfach etwas weniger als das. Nicht jeder kann das gleiche leisten. Und viele von denen, die das Gefühl haben, nicht mehr alles leisten zu können, steigen einfach aus.
Und mir persönlich steigen einfach gerade zu viele aus.
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