Meine erste Band. Es war 1988.
Vanishing Line – Der Aufbruch
Es muss in etwa der Frühling des Jahres 1988 gewesen sein, als Holger Kliem, Arnold Wrobel, Carsten Schüler und meine Wenigkeit, Markus Sänger, im Alter von 16 Jahren unsere erste „richtige Band“ zu gründen beschlossen. Motiviert durch die eigene beinahe grenzenlose und bis heute ungebrochene Leidenschaft für Musik, die tiefe Bewunderung für Bands aus einem Spektrum von New Wave über Punk bis Metal und das damals in der Tat sehr starke und gute Gefühl, etwas Neues erschaffen zu wollen, zusätzlich unterstützt von dem spannenden Gedanken an künstlerisch motivierte Trinkgelage und damit einhergehenden Diskussionen über Gott und die Welt, begannen 4 Freunde Ihre Vorlieben zu vereinen und auszuleben. Und dabei haben wir noch nicht einmal vorrangig daran gedacht Mädchen mit unserer Kunst zu imponieren, was bis heute beinahe eines der größten Mysterien der Band darstellen sollte.
Den Mangel an Instrumenten, geschweige denn einer Kenntnis ihres adäquaten Bedienens, verleugnend, fand man schnell den ersten Proberaum und somit festen Stützpunkt für die rund 2 ½ Jahre in denen Vanishing Line existieren sollten: Markus Jugendzimmer. Hier ließ sich alles aufbauen und verstauen, was man als Teenager zum Songschreiben im Jahre 1988 benötigte. Holgers rote, mit einem unübersehbaren „Yeah“-Aufkleber, der ihr den Namen einbrachte, verzierte Gitarre; der in seinen Ausmaßen und Klangfarben streng limitierte Koffer-Verstärker; Arnolds nagelneues Keyboard, was so schlecht nun einmal gar nicht war, für das Geld welches man damals zur Verfügung hatte und nebenbei für den Drumsound der frühen Aufnahmen Pate stand; Markus alte Doppelmanual-Orgel, die ihn nun schon seit bestimmt 10 Jahren mit ihren unverwüstlichen Kloppern wie „Yankee Doodle“ oder „Swanee River“ begleitete und vorerst den Bass ersetzen musste; ein von unserem damaligen Erdkunde-Lehrer Sammy Drechsel versehentlich entliehenes für Videozwecke konzipiertes Richtmikrofon, welches Carstens Stimme auch ohne zwischengeschalteten Verzerrer die Klangfarbe der damals durchaus verehrten Dortmunder Elektro-Underground-Band „The Invincible Spirit“ (siehe den Szene-Hit „Push“) verlieh (und nebenbei bemerkt noch heute im Proberaum von Porter herum geistert); diverse Utensilien, die noch aus gar nicht so lange vergangenen Black Noise-Tagen übrig geblieben waren und noch immer für – wie wir es uns damals gerne einredeten – atmosphärische Dichte in den Songs sorgen konnte, wie z. B. eine metallene Spirale, Schranktüren, Wassergläser, und auf was man sonst noch so rumhauen konnte; und natürlich mein für die Aufnahmen nicht wegzudenkender AIWA-Kassettenrecorder mit eingebautem Mikrofon, den ich zum – ich glaube – 10. Geburtstag bekommen hatte.
Des Weiteren befanden sich hier die in den Tumult artigen Zeiten der Selbstfindung für ordentliches Song- und Texteschreiben durchaus wichtigen Utensilien wie ein Fernseher; ein damals zwar schon leicht betagter aber noch gerne und mit viel Enthusiasmus benutzter C-64; immer ein bewußtseinserweiternder frischer Kasten Weizenbier; die obligatorische Flasche billigsten Bourbon-Whiskeys (in diesen Tagen entstand übrigens der über lange Jahre hinweg gepflegte Brauch des Flaschenbeschreibens mittels Permanentmarker mit der Wahrheit, und nichts als der Wahrheit); eine Dose Zitronentee aus dem ALDI; viele lose Zettel und einen Haufen Stifte; ein unfassbares Heer an Musikkassetten, ersten CDs und Schallplatten; vorbildkreierende Zeitschriften wie Metal Hammer und Zillo; ein paar Exemplare der neuesten Verschwörungstheorien über Heavy Metal, das Bermuda Dreieck, Außerirdische oder Quantenphysik in Buchform; frisch entliehen aus der gut sortierten Stadtbücherei in Witten; wandfüllende Poster von Bad Religion und Risk; ein oft bemühter Globus; ein Videorekorder nebst unendlich vielen VHS-Kassetten mit Live-Mitschnitten von Led Zeppelin („The Song Remains The Dame“), Joy Division, New Order, Motörhead, AC/DC, The Cure („In Orange“), Fields Of The Nephilim, Metallica und und und, welche wir uns nach der Probe bis tief in die Nacht immer wieder anschauten und darüber sowohl bewundernd philosophierten, als auch erbittert stritten, ob es nun wichtiger sei, sein Instrument in unendlicher Perfektion zu beherrschen (heute beinahe unverständlicherweise aber meiner Liebe zu Led Zep geschuldet meine Position), lieber unter Zuhilfenahme von einer ganzen Batterie von Effekten eine Stimmung herüber zu bringen (Holger, der damals alles vom Factory-Lable anschleppte) oder aber das ganze zu kombinieren und zu einer Art dilletantischem Perfektionismus zu machen (Arnold, der das damals nicht genau so gesagt, aber bestimmt gedacht hat – Arnold redete nicht viel, aber wir wussten mit absoluter Bestimmtheit, dass er eine Menge dachte).
Metal, Punk und Wave knallten in diesem Zimmer sowohl soundtechnisch als auch inhaltlich immer wieder aufeinander und prägten fortan unseren gesamten musikalischen Werdegang mit Vanishing Line, den folgenden Friday Is Scrapped, den das ganze perfektionierenden aber leicht metallischeren Luzifer Sam und sogar den noch heute existenten Porter.
Für mich persönlich kristallisierten sich in dieser von Suche geprägten Zeit die beiden Pole heraus, welche mein komplettes Schaffen – nicht nur musikalisch – von nun an begleiten und bestimmen sollten. Die unmittelbare Aggression von Punk, Hardcore und Metal, prallte auf die egozentrisch wärmende und immens in sich gekehrte Melancholie des Wave. Ein auf den ersten Blick und für Unbedarfte zerstörerisch wirken müssendes Element, welches einen aufstehen lässt, welches eine veranlasst aktiv zu werden, Unrecht wahrzunehmen und anzuprangern, die Faust zu recken, nicht nur zu reden, sondern zu handeln, dieses Element traf auf die leitende, durch seine Introvertiertheit und das völlige auf sich Bezogensein den Verstand und das Denken ins Zentrum rückende Neugier der Melancholie. Oder noch anders ausgedrückt: Rohe, pure, animalische Energie paart sich mit der Ratio eines forschenden, immerfort suchenden und nach Antworten ringenden Geist. Wann immer sich die eine Seite anschickt die Überhand zu gewinnen, greift die andere regulierend ein. Ich möchte nicht den scheinbar so nahe liegenden Jeckyll and Hyde-Vergleich bemühen, jedoch ist er auch kein über allzu viele Ecken entfernter Verwandter. Und dabei fällt es keinesfalls immer der Melancholie zu, die Rolle des beruhigenden Pols einzunehmen. Ohne die aufrührerische, anarchische Mentalität der Aggression würde die Melancholie alleine in eine Art sich selbst blockierender Starre verfallen, die keinen kreativen Gedanken jemals ausleben würde. Andersherum lenkt sie die Aggression in Kanäle, die diese alleine niemals würde befahren können. Es ist wie der perfekte Einklang aus Körper und Geist.
Ich denke, es ist absolut kein Zufall, dass so viele junge Menschen, gerade auch aus dem musikalischen oder sozialen Umfeld von harter oder extrovertierter Musik sich in ihrer Findungsphase durchaus auch zu Literatur hingezogen fühlen, die diese beiden Bereiche vereinen. Hermann Hesses „Demian“ von 1919 ist so ein Beispiel. Stets geht es um das klassische Motiv, dass man eine Welt – wenigstens symbolisch, mental – zerstören muss, um eine neue zu erschaffen und aufzubauen. Altes muss hinterfragt werden, damit Neues Platz hat. Das muss nicht zwangsläufig mit der kompletten Verneinung des Alten einhergehen, aber es erfordert eine extreme Katharsis der ganz persönlichen Art.
So ist es wohl im Nachhinein auch kein Zufall, dass wir in unserem ersten Bandjahr als Vanishing Line Herman Hesses „Demian“ mit ein paar Freunden, wie Sven Faulhaber und Henning Jaeger, für unseren Deutsch-Kurs verfilmten. Überhaupt gingen die musikalischen Arbeiten nicht ansatzweise so gut voran, wie die Erstellung von den dazu gehörigen Musikvideos, die wie damals bei so vielen von der Schwarzweiß-Ästhetik der „Behind The Wheel“-Ära von Depeche Mode beeinflusst waren. Wohl auch, muss man sich heute wohl eingestehen, weil sich so mit relativ belanglosen Bildern, simpler Technik (ein Video 8-Camcorder und ein Videorecorder als Schnittplatz) und einer spannenden Schnittfolge gute Erfolge erzielen ließen. Der Sommer 1988 hatte viel schöne Tage zu bieten und anstelle des Werkelns an neuen Songs, machten wir lieber die umliegende Wälder und Felder zu einem riesigen Video-Dreh-Set für unsere zukünftigen Hits.
Der erste richtige Song den wir schrieben und immer wieder auf Kassette bannten war „Competent Establishment“. Arnold und ich hackten auf unseren Tasteninstrumenten ein elektronisches Fundament mit einprogrammiertem schnellen Synthischlagzeug herunter, während Holgers Gitarre das Ganze mit einem sehr rauen Punkappeal versah. Carsten schrie und gröhlte meinen ersten, wahrhaft schlechten Text über die krachige Melange und fertig war der erste Vanishing Line-Klassiker. Wenn der Song etwas hatte, dann war es wohl Energie. Ansonsten muss man eingestehen, dass auch er musikalisch noch eindeutig in die Findungsphase fällt. Spannend und durchaus wichtig zu erwähnen ist hierbei jedoch, dass die aus der Not geborene Instrumentierung einen unmittelbaren Einfluss auf die Art des Songs hatte. Ohne etwas vorweg nehmen zu wollen; ein Jahr später mit Bass und Schlagzeug anstelle von Keyboard und Orgel und mit Holgers Gesang anstelle von Carstens wäre der Song wohl komplett anders geworden. Wenn ich mich recht entsinne hat sogar Sven – der ein Jahr zuvor bereits beim Projekt Black Noise, der experimentellen und pre-instrumentalen Vorstufe von Vanishing Line dabei war – einmal in Carstens Abwesenheit den Song gesungen. Dies nur der Vollständigkeit halber.
In dieser Manier und Besetzung entstanden etwa 6 Songs. Ich textete damals was mir in den Sinn kam, oft sehr persönlich, manchmal auch in Anlehnung an meine Metal-Sozialisierung sehr fantastisch und merkte schnell, dass ich mit meinem Schul-Englisch keinen Literatenpreis würde erringen können. Demgegenüber standen Holgers Texte, die sich in ihrer Art bis heute thematisch kaum geändert haben und von einem sehr emotionalen Blick auf die Innenwelt geprägt waren und noch immer sind, wenngleich sich Anspruch und Qualität mit jedem Jahr immens gesteigert hat. Dadurch dass wir beide den Drang zu schreiben in uns spürten, kristallisierte sich bereits jetzt ein kreativer Konflikt heraus, der sich später sowohl bei Friday Is Scrapped, als auch bei Luzifer Sam zeigen sollte. Jedem war natürlich daran gelegen, dass seine Texte, ohne Zweifel für jeden persönlich von immenser Bedeutung und als künstlerische Bestätigung von enormer Wichtigkeit, in einem Song eingesetzt werden. Solange Carsten das Mikro führte konnte man dieses Riff noch umschiffen. Als sich jedoch nach relativ kurzer Zeit – in meiner Erinnerung sind es ein paar Monate – heraus kristallisierte, dass Carsten zwar ein unheimlich netter Kerl und ein sauguter Freund von uns, jedoch beileibe nicht zum Sänger geboren war, übernahm Holger den Gesang und schrieb – wer will es ihm verdenken – die Texte nun vornehmlich alleine für sich selber, was wiederum zur Folge hatte, dass ich – der ja schließelich stetig weiter schrieb – bei der Gründung von Friday Is Scrapped im Herbst 1990, einen ganzen Stapel von Texten vorzuweisen hatte und das Dilemma angesichts zweier Sängerinnen, Melanie Bendlin und Britta Schulte, die eher weniger selber schrieben, wieder von vorne begann. Doch zu diesem Zeitpunkt war zumindest eines geklärt: Holger übernahm zusätzlich zu seiner Gitarrenarbeit den Gesang – was ihn zu Beginn noch vor eine ganz schöne Herausforderung stellte – und entwickelte so seine später so typische Art zu singen, eine düstere und dunkle Art des Pathos, die ihm etwa 8 Jahre später in einer Zeitungskritik den Beinahmen „der Pavarotti des Heavy Metal“ einbringen sollte. Aber so weit sind wir noch lange nicht.
Weiter demnächst im 2. Teil: 1988 – 1989
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