Faszinierend bei Konzerten von Nathan Gray finde ich eigentlich immer die Tatsache, dass ich ganz gewiss mit ganz vielen von den Typen, die hier vor der Bühne stehen, schon seit über 20 Jahren gemeinsam Konzerte besuche, ohne sie auch nur ansatzweise zu kennen. Abgesehen davon, dass erstaunlich viele junge Leute Boysetsfire gerade seit der Reunion neu kennen gelernt zu haben scheinen, sind auch echt viele „graue“ Menschen hier, denen ein ganzes Konzertleben nur so aus den Poren trieft. Und scheinbar sind viele von ihnen den langen Weg des Herrn Gray mitgegangen, der in den letzten 10 Jahren eine ganz eigene Wendung mitsamt so manch geschlagener Haken genommen hat. Ein extrovertierter Selbstheilungstrip, der Stand heute einen erstaunlichen Menschen zu Tage gefördert hat.
Erstaunlich war er als Sänger und Texter für uns Fans natürlich sowieso immer, aber das was seine Konzerte spätestens seit seinem ersten „richtigen“ Soloalbum „Feral Hymns“ ausmacht, ist eine völlig neue Qualität. Ich habe ihn, seine Musik und diese intensiven Texte immer gemocht, auch – und sogar sehr – als er mit seinem ältesten Sohn Simon die Extremmetalband I Am Heresy ins Leben betrieb, die mit brutaler Musik einen ätzenden Finger in so viele christliche Wunden legte. Damals verstand natürlich noch niemand den Ursprung dieser Intensität an Verachtung die Nathan Gray der Kirche, ja dem Glauben an sich, entgegen schleuderte. Ein paar Jahre, unendlich berührende Solokonzerte und äußerst intime Offenlegungen später, sind wir alle klüger, und Nathan Gray eine Tonne an Ballast zwar nicht unbedingt los, hat diese aber in einfühlsame Kunst, und viel mehr noch, in spürbare Liebe umgesetzt.
Nachdem die Feral Hymns-Tour ausschließlich in Singer/Songwriter-Manier ausdrücklich mit ganz wenig auskam – hier eine Gitarre, dort ein Cello – knallt uns Herr Gray die Songs von „Working Title“ live nun, mit wenigen Ausnahmen, im schnörkellosen Punkrock-Gewand um die Ohren und in die Herzen, das die Ramones erfreuen würde. Als Headliner der End Hit Records-Festival Tour mit so unterschiedlichen Acts wie Swain, Matze Rossi und Norbert Buchmacher, wird das Konzert zum wahren Triumpf. Nicht über irgendwen anderes, sondern über sich selbst.
Ein nicht weniger emotionaler, aber sichtbar erleichterter Sänger im Gegensatz zu früher, strahlt im Jahr 6 seiner „Selbstständigkeit“ eine Spielfreude und Lebenslust aus, dass man als Fan, der man ihn so lange begleiten durfte, aber erst sein etwa 2 Jahren wirklich verstehen kann, was er durchgemacht hat, einfach nur glücklich ist, ihn so zu sehen. Kein Wunder, dass er seine selbstgewählte Mission, auch anderen in ähnlichen Lebenslagen zu helfen und Mut zuzusprechen bei Konzerten oder auf Instagram vehementer und überzeugender denn je verfolgt.
Und so schließt sich vielleicht gerade ein Kreis, denn die politischen Themen von Boysetsfire – der Kampf gegen jegliche Form von Unterdrückung und die wachsemde Bedrohung durch faschistische Tendenzen überall auf der Welt – bleiben weiterhin ein Kernelement, allerdings scheint Nathan Gray heutzutage weniger verzweifelt als vielmehr gestärkt zu agieren, nicht zuletzt dank des Prozesses, den er aus eigener Kraft durchlaufen hat, der allerdings noch immer andauert. Die Mittel haben sich geändert. War die Botschaft von Boysetsfire immer schon Liebe und Einheit, so sind es heut weniger die Schlachtrufe „Where`s your anger, where`s your fucking rage!“ als vielmehr die positiven, optimistischen Mutmacherlyrics.
Live ist dieser Mann nach wie vor der reinste Energieschub, nur eben ein sichtlich gesünderer als noch vor ein paar Jahren. Und so ist es auch kein Wunder, dass sich hier inzwischen Generationen vor der Bühne versammeln.
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